Die Freispitze darf sicherlich zu den imposantesten und ungewöhnlichsten Gipfeln der Nördlichen Kalkalpen gezählt werden. Der gewaltige, in seiner Form mehrfach abgewandelte Gipfelaufbau könnte man als eines der kreativen Meisterstücke der Alpen bezeichnen - ein farbenprächtiger Cocktail unterschiedlichster Sedimente, welche im Zuge der Gebirgsentstehung imposant aufgestellt und übereinander geschoben und schließlich von den Gletschern der letzten Eiszeiten zu einem steil aufstrebenden Gipfel von unikaler Schönheit herausgearbeitet wurden. Mittelmaß oder Tendenzen zur Bescheidenheit kennt die Freispitze nicht, vielmehr trägt sie geologisch-morphologische Extreme in geradezu dekadenter Weise zur Schau.
Der Freispitzkamm – ein geologisch-morphologisches Kunstwerk
Der bekannteste und wohl auch schönste Blickwinkel auf diesen Ausnahmeberg bietet sich dem Wanderer von Osten aus dem Gebiet der Memminger Hütte. Zwei geologisch grundverschiedene Grate bilden hier das charakteristische Erscheinungsbild: Der Ostgrat – auch Jägerrücken genannt – präsentiert sich im unteren Teil als bis zu 50° steile und über 1000 m tief fußende Steilgrasplanke, welche mit senkrechten Aptychenkalkwänden ins nördliche Kühkarle abbricht. Im oberen Abschnitt schnürt sich der Rücken zu einer waagrechten, extrem zugespitzten Schneide zusammen und schwingt sich schließlich steil zum 2836 m hohen Freispitz-Nordostgipfel, auch Freispitz-Trapez genannt, empor. Dieser eindrucksvolle "Vorgipfel", welcher mit gut 400 m hoher, düsterer Aptychenkalkwand wie ein Spukschloss über dem hinteren Becken des Appenzeller Kars thront, wird nahezu nie von Menschen betreten. So fand mein Bergfreund Raimund Moll, welcher diesen abweisenden Gipfel um die Jahrtausendwende in heikler Graskletterei über den Jägerrücken bestieg, unter einem Stein eine völlig verrostete Kassette mit den Überresten eines Buches. Es enthielt genau einen Eintrag vom Erstbesteiger Flaig aus dem Jahr 1920! Ein rasierklingenscharfer Felsgrat, bei dessen Anblick selbst ein Ausnahmeberg wie die Höfats in den Allgäuer Alpen vor Neid erblassen würde, verbindet das Freispitztrapez mit dem senkrechten Rätkalkaufbau des Hauptgipfels. Auch hier sorgen Aptychenkalke für das abweisende Erscheinungsbild. Nördlich des Freispitztrapezes steht die Saxerspitze, welche ganz im Gegensatz zur Freispitze vollständig aus Hauptdolomit aufgebaut ist. Dieser trotz lohnender Aussicht nur wenige Male im Jahr besuchte Gipfel zählt mit rd. 9 Quadratkilometern Fläche zu den mächtigsten Einzelbergmassiven der Lechtaler Alpen.
Im starken Kontrast zum Freispitz-Ostgrat steht der deutlich kürzere Freispitz-Südostgrat, welcher ganz aus hellem Rätkalk aufgebaut ist und beidseitig mit bis zu 450 m hohen, nahezu senkrechten Plattenwänden abbricht. Knapp 100 Meter unterhalb des Hauptgipfels bildet der Grat einen ganz markanten Zapfen aus, den sogenannten Freispitzturm. Der kompakte Plattenfels der Südwand war es dann auch, welcher die Freispitze, lange nach der Erstdurchsteigung durch Dieter Heel und Manfred Schreck im Mai 1969, als Extremkletterberg weit über die Grenzen der Lechtaler Alpen hinaus berühmt gemacht hat. Herabstürzendes Schmelzwasser der vergangenen Jahrtausende hat in die Südwand eine Fülle scharf eingeschnittener Erosionsrinnen gesägt, welche dem Extremkletterer heute herausragend schöne Kletterrouten bieten. Bemerkenswert erscheint heute die Leistung der Erstbegeher, welche seinerzeit die Wand noch mit festen Bergschuhen durchstiegen haben und jeden Sicherungshaken mühsam von Hand in den kompakten Rätkalkfels bohren mussten.
Was den Kletterer hingegen auf der gegenüberliegenden Nordseite erwartet, beschreibt Karl Steiniger bereits in der Alpenvereinszeitung von 1911 mit folgenden bezeichnenden Worten: "Wer hier nur um Zentimeter gleitet, hat die Leiden der Welt hinter sich". In der Tat besteht die finstere, rd. 350 Meter hohe Wand aus brüchigsten Fleckenmergeln. 100 Meter unterhalb des Gipfels stößt die Wand an ein markantes Geröllband, auf welchem seinerzeit Flaig im Anschluss an die Besteigung des Freispitztrapezes den senkrechten Gipfelaufbau des Hauptgipfels überlistete. Oberhalb des Geröllbands durchzieht ein charakteristischer, wohl aus Wechsellagerungen von Hornsteinkalken und Radiolarit bestehender roter Schichtstreifen die Wand. Die Nordwand stößt westlich an die Dreischarten, einem von einigen Felstürmchen bewehrten Grat, welcher sich vom Ende des Nordwest-Grats nach Norden wendet und zu einem weiteren Schaustück des Freispitzmassivs, dem Dreischartlkopf, hinüberleitet. Im Grunde genommen stellt dieser nur eine 2440 Meter hohe, der Freispitze vorgelagerte Schulter dar, welche jedoch mit einer 400 Meter hohen, aus kompaktem Rätkalk bestehenden Wand die Blicke des von Madau heraufkommenden Wanderers auf sich zieht. Auch diese Wand wurde erst verhältnismäßig spät zum ersten Mal von Reisach/Tanner im Jahr 1975 durchstiegen.
Die Südwest- und Westflanke der Freispitze sowie die südlich zwischen ihr und der Rotplatte liegende Freispitzscharte sind wieder den Fleckenmergeln gewidmet. Weitläufige, gelblich verwitterte Fleckenmergel-Schutthalden geben dem Bergsteiger das Gefühl, sich in einer Mondlandschaft zu bewegen. Ganz charakteristisch setzt sich hier die helle Rätkalk-Südwand als scheinbar unüberwindbare Mauer auf der westlichen Gratseite fort. Man hält es kaum für möglich, dass diese bei der Freispitzüberschreitung durch geschickte Ausnutzung der Geländestruktur mit "nur" mäßig schwieriger Kletterei überwunden werden kann. Aus der Entfernung wirken die hellen Plattentafeln inmitten der Fleckenmergelschutthalden bizarr und verleihen auch hier der Freispitze ein unverwechselbares Antlitz.
Südlich der Freispitzscharte erheben sich die etwas niedrigeren, aber ebenfalls mächtigen Gipfel der Rotplatte (2831 m) und Rotspitze (2837 m). Sie können zwar von ihrem Erscheinungsbild nicht ganz mit der kühnen Freispitzsilhouette mithalten, aber auch hier handelt es sich um geologisch und morphologisch ungemein interessante und beeindruckende Gipfel. Besonders gekonnt setzt sich der Westsporn der Rotplatte in Szene, welcher als kaum fallende Felsschneide vom Gipfel nach Westen zieht und dann abrupt als teilweise überhängende 300 Meter hohe Kante ins Alperschontal abbricht. Neben rötlichen Sedimentgesteinen besteht der Sporn überwiegend aus widerstandsfähigen Aptychenkalken, was im Übrigen auch für die helle Felshaube der Rotplatte gilt. Auch hier hat Schmelzwasser dunkle Wasserrillen in das hellgrau verwitterte Material gesägt, während das Gestein im Bereich des Überhangs mangels Kalklösung gelblich in Erscheinung tritt. Die Übergänge zur Rotspitze und Freispitze sind hingegen wieder vom Fleckenmergelschutt geprägt, sieht man von einem markanten rotgefärbten Schuttstreifen zwischen Rotplatte und Rotspitze einmal ab. Hervorgehoben sei an dieser Stelle auch der schön anzusehende, geologisch ungemein kompliziert aufgebaute Nordwest-Grat der Rotspitze. Auf der Ostseite beeindrucken die beiden Gipfel mit mächtigen Wandabstürzen aus Aptychenkalken und dunkelroten Einlagerungen aus Hornsteinkalken. In Extremkletterkreisen haben die teilweise überhängenden Nordwände des Nordost-Grats der Rotplatte einen ausgezeichneten Ruf. Aus dem Parseiertal fällt hier ein ganz markanter Felsturm von wilder Schönheit ins Auge, der sogenannte Heel-Zapfen. In Wirklichkeit handelt es sich aber hier um keinen Turm, sondern nur um den ersten, extrem steilen Grataufschwung des Nordost-Grats. Auch hier war es Dieter Heel, der zusammen mit Wolfgang Hofer diesen edlen Zapfen im Jahr 2000 erstmals erkletterte.
Tourenbeschreibung
Eines der schönsten Routen auf die von allen Seiten schwer zugängliche Freispitze führt über die Rotspitze und Rotplatte mit Abstieg über den Freispitz-Nordwest-Grat. Im Gesamtkonzept kann diese Tour als eine der anspruchsvollsten und auch anstrengendsten Touren dieser Seite eingeordnet werden, welche neben Schwindelfreiheit und perfekter Trittssicherheit die sichere Beherrschung des zweiten Schwierigkeitsgrads voraussetzt. Es handelt sich hier wohlgemerkt um keine bergsteigerische Genussfahrt, denn die Route verläuft fast durchgehend im brüchigen Mergelgelände mühsame Geröllpassagen inklusive. Landschaftlich gehört diese Tour aber wahrlich zum Großartigsten, was die gesamten Nördlichen Kalkalpen zu bieten haben. Keine andere Tour hat bei mir einen so überwältigenden Eindruck hinterlassen, was in Anbetracht der eher moderaten Wetterverhältnisse an diesem Tag schon bemerkenswert ist. Mein großer Dank geht an Raimund Moll, dessen erfahrene Begleitung mir die Besteigung dieses Traumbergs überhaupt erst ermöglicht hat.
Ausgangsort ist das kleine Bergbauerndorf Madau am hinteren Ende des Madautals, von dessen einst 60 Bewohnern heute nur noch der Wirt des Berggasthaus Hermine als Einwohner gemeldet ist. Interessanterweise gehört Madau historisch bedingt zur Gemeinde Zams im Inntal, obwohl es geografisch dem Lechtaler Raum zugeordnet werden müsste. Wie so viele Seitentäler des Lechtals ist auch das rd. 6 km lange Madautal für den öffentlichen Verkehr gesperrt und kann ohne Genehmigung nur in zweistündiger Wanderung oder in ca. 30 min mit dem Bike bzw. mit dem Taxibus jeweils von Bach aus erreicht werden. Weitere Informationen zu Madau erhalten Sie unter www.madau.at.
Erstes Ziel unserer Überschreitung ist eine namenlose Scharte im Südgrat der Rotspitze auf 2.662 Metern Höhe. Diese kann entweder vom Alperschontal über die Knappenböden oder vom Parseiertal über das Langkar erreicht werden. Die Route über das Alperschontal bietet sich vor allem dann an, wenn Sie mit dem Bike nach Madau gefahren sind. In diesem Fall können Sie nämlich noch weitere 4 km (durchschnittliche Steigung ca. 10%) mit dem Bike taleinwärts radeln, was auch dann noch zweckmäßig ist, wenn Sie das Bike schieben, denn auf dem Rückweg können Sie dieses dann für eine zügige Abfahrt nach Madau bzw. Bach nutzen - ein nicht zu unterschätzender Vorteil nach einer so langen und anstrengenden Tour. Die Route über das Parseiertal/Langkar ist der Route über das Alperschontal aus landschaftlicher Sicht mindestens ebenbürtig. Ein Vorteil ist, dass die Sonne in den Morgenstunden die Ostflanke des Freispitzmassivs ins optimale Licht taucht und so eindrucksvolle Fotoaufnahmen gestattet. Bei Anfahrt mit dem Taxibus bis zum Parkplatz der Memminger Hütte ist die Strecke bis zur erwähnten Scharte zudem etwas kürzer, allerdings bleibt Ihnen dann der 4 km lange Forstweg-Rückmarsch nach Madau am Ende der Tour nicht erspart. Sie sollten ohne Bike unbedingt eine Übernachtung im Anschluss an die Tour im Berggasthaus Hermine einplanen, denn ein Taxibus zurück nach Bach fährt zum Zeitpunkt Ihrer Rückkehr aller Wahrscheinlichkeit nicht mehr.
Mit Raimund habe ich die Route über das Alperschontal gewählt. Falls Sie per Bike unterwegs sind, so stellen Sie dieses direkt am Austrittspunkt des neuerdings beschilderten Steigs hinauf ins Appenzell bei ca. 1660 hm ab. Wir bleiben der Forststraße treu, bis diese in Nähe der Alperschon-Alm auf die andere Seite des Tals wechselt. Wir wandern nun auf dem schmalen markierten Steig weiter taleinwärts und erreichen über eine kurze Einengung, dem "Klämmle" und den flachen Böden der Schlafbühel die Lärchenwaldhütte in ca. 1940 m Höhe, welche sich für eine kurze Rast anbietet. Wir folgen weiter der markierten Steigspur bis zu einer ausgeprägten Doppelkehre. Hier verlassen wir den Weg und steigen über gut gestuftes Grasgelände nach Westen weiter bergauf und gelangen ohne Schwierigkeiten an einem dolinenartigen Einbruch und dem kleinen Knappenbödensee vorbei in den hinteren Teil des Kars. Besonders eindrucksvoll zeigen sich von hier die scharz-rote Felsruine des Fallenbacherturms und die Vorderseespitze mit ihrem markanten Gletscherchen. Unser weiterer Aufstieg in die Scharte ist nun klar auszumachen. Am Besten halten wir uns so lange wie möglich im Bereich eines zur Scharte hinaufziehenden Blockwerkstreifens und arbeiten uns dann mühsam, aber insgesamt immer noch weniger unangenehm als von den Knappenböden aus vermutet, zur Scharte vor der Rotspitze empor. Der Anstieg aus dem Langkar sah mir aus der Scharte vergleichsweise weniger mühsam und vor allem viel kürzer vor.
Der breite Südgrat setzt hier mit einer dunklen, waagrecht geschichteten Stufe an, welche auf der linken Gratseite überlistet wird. Hierzu klettern wir über eine kurze, etwas griffarme Platte unterhalb der dunklen Steilstufe zu einem Geröllband (II), folgen diesem wenige Schritte nach links und klettern dann über Schrofenstufen zu einer steilen Mergelabdachung empor, welche über einige Felsstufen zum Wandabbruch der Rotspitz-Südwand hinaufleitet. Hier halten wir uns scharf links und durchsteigen den hier niedrigen Abbruch durch eine kurze, gut gestufte Schrofenrinne (I). Sie leitet zu einem kleinen, ebenen Vorsprung, wo kurz unterhalb nach rechts (also in östlicher Richtung) ein Band ansetzt , das in die Gipfelwand
führt. Nach Überwindung einer abdrängenden Stelle, erreichen wir eine Ecke, hinter der nach links eine plattige, trittarme Rinne beginnt, welche links von einem Felsabbruch begrenzt wird (II). Oberhalb der Rinne geht es wieder etwas leichter durch steilen, ausgesetzten, aber gut gestuften Fels (I) ziemlich direkt, am Ende nach links abbiegend, direkt auf den Gipfelkamm, wo unmittelbar am Ausstieg ein Steinmann steht. Mein herzlicher Dank geht an Arne Heidel für seine präzisen Ausführungen zur Schlüsselstelle dieser Tour. Ich selbst meine mich vom kleinen Vorsprung eher links gehalten zu haben, wo man durch ausgesetzte Querung über eine ebenfalls abdrängende und griffarme Passage den NW-Grat noch etwas weiter unten erreicht (entspricht II). Ich bin mir diesbezüglich aber nicht mehr ganz sicher, weshalb ich der Beschreibung von Arne hier den Vorzug geben möchte. Was ich aber noch bestens in Erinnerung habe, dass war die psychische Überforderung an dieser Stelle, welche ich auf schmierigen Schuhsohlen erst nach Einbindung in Raimunds vorsorglich mitgeführtes 10m-Seil - dann erstaunlich problemlos - überwunden habe. Was so ein Seil alles ausmacht!
Gewaltig baut sich nun vor uns der Westsporn der Rotplatte auf, welcher mit seiner hellgrauen Kante aus Aptychenkalken lotrecht ins Bodenlose stürzt und in einer surreal anmutenden, farbenprächtigen Landschaft aus dunkelroten Hornsteinkalken und steilen, gelb verwitterten Fleckenmergelschutthängen eingebettet ist. Für mich das landschaftliche Highlight dieser Tour, welches sicherlich auch bei Ihnen einen bleibenden Eindruck hinterlassen wird. Über den nun einfachen, hindernislosen Geröllgrat erreichen wir ohne weiter Schwierigkeiten den prächtigen Aussichtsgipfel der Rotspitze.
Der landschaftlich reizvolle Übergang zur Roten Platte westlich der Abbruchkante ist vergleichsweise einfach und erfordert nur etwas Trittsicherheit in der steilen Geröllflanke. Ein kleiner Felsturm wird etwas tiefer links herum umgangen, dann halten wir uns immer auf der Grathöhe und erklettern ohne nennenswerte Schwierigkeiten die Aptychenkalk-Haube der Rotplatte (I).
Der Abstieg zur Freispitzscharte im steilen Schutt macht zunächst keine allzu großen Probleme und wir nutzen deshalb gerne die Gelegenheit, den außergewöhnlichen Gipfelaufbau der Freispitze mit seinen im Fleckenmergelschutt "vergrabenen" wilden Plattenwänden und dem kühn aus dem SO-Grat ragenden Freispitzturm auf uns wirken zu lassen. Auch den Durchstieg durch die Wand zu dem steilen, v-förmig erodierten Schuttkar können wir bereits ausmachen: Der Durchstieg beginnt bei dem auffallenden, in die Wand eingelagerten Grasfleck ca. 50 Höhenmeter links unterhalb der Freispitzscharte und endet genau dort, wo die auffallenden Kalkrippe knapp rechts des Wasserlaufs an das untere Ende des Schuttkars stößt. Von unserer Warte aus sieht das für den "Nichtkletterer" kaum durchführbar aus und ich zweifelte bei diesem Anblick schon sehr, ob das nicht doch eine Nummer zu groß für mich ist.
Nach ungefähr der Hälfte unseres Abstiegs in die Freispitzscharte wir das Gelände unübersichtlicher. Wir weichen einem schrofigen Abschnitt nach Westen aus, bis das steile Schuttgelände weitgehend ungangbar wird. Hier gilt es an geeigneter Stelle wieder Richtung Grat zurückzuqueren, wo wir dann über ein schmales Schuttband unterhalb der Gratkante mit gebotener Vorsicht zur Grathöhe zurückkehren. Von hier geht es ohne nennenswerte Schwierigkeiten die letzten Meter hinab in die Freispitzscharte.
Unser nächstes Ziel ist der bereits erwähnte Grasfleck. Es sei jedoch davor gewarnt, die Querung dorthin auf direktem Weg anzugehen: Das im Bereich des Sattels gut gangbare Schuttgelände geht weiter unten in äußerst unangenehmes Steilgelände aus brüchigen Fleckenmergelschrofen über (ich weiß, wovon ich rede…). Am Besten queren wir deshalb in der Freispitzscharte nur leicht absteigend zu den Wandabbrüchen hinüber, wo eine Rinne die 50 Höhenmeter hinab zu einer Schuttrampe leitet, über welche wir den Rasenfleck oberhalb der Felsabbrüche erreichen. Vom Rasenfleck aus gelangen wir zu einem etwas ausgesetzten Quergang, welcher jedoch wesentlich besser gangbar ist, als noch von der Freispitzscharte aus vermutet. Ein hier gespanntes Drahtseil macht die Querung weitgehend sicher, jedoch ist das Seil auf den letzten Metern etwas ungeschickt angebracht, wodurch man etwas vom Fels abgedrängt wird und so unnötig ausgesetzt über der Plattenkante queren muss. Am Ende des Quergangs leiten gut gestufte steile Grastritte zu der oben bereits beschriebenen Felsrippe empor, welche in zwar luftiger, aber sehr schöner und sicherer Kletterei zum unteren Ende des Hochkars leitet. Raimund hat mich an dieser Stelle vorsichtshalber ans Seil genommen, was sich jedoch nachträglich als unnötig herausgestellt hat. Der Fels ist fest und griffig und meines Erachtens nur an einer kurzen Stelle mit einer glatten II zu bewerten. Natürlich handelt es sich bei dem Wanddurchstieg um eine Schlüsselstelle dieser Tour, welche ich aber der heiklen Schlüsselstelle an der Rotspitze klar unterordnen würde.
Für den weiteren, landschaftlich durchaus beeindruckenden Aufstieg zum Freispitzgipfel halten wir uns am Besten so lange wie möglich in den Felsstufen des Wasserlaufs und queren erst wenn das Gelände ungangbar wird auf die linke Begrenzungsrippe hinüber. Sie leitet zu einer scharf zugespitzten, parallel zu den Gipfelfelsen verlaufenden Felsrippe aus Aptychenkalken hinauf. Genau zwischen dieser und den Gipfelfelsen befindet sich eine breite Rinne aus dunkel verwittertem Mergelschutt, über welche wir mühsam zur Gratkante emporsteigen. Von hier steigen wir die sehr steilen Rätkalkstufen (I+) die letzten Meter zum Freispitzgipfel empor.
Das Einzige, was einem auf der Freispitze die Sicht versperren kann, das sind Wolken und die haben sich bei meiner Gipfelankunft sogar an einigen Stellen etwas gelichtet. Herausragend ist der Blick hinüber zu den markanten und geologisch ungewöhnlich vielfältig aufgebauten Gipfeln der Wetter- und Feuerspitzgruppe im Westen. Besonders eindrucksvoll zeigt sich von hier die deutlich niedrigere Fallenbacherspitze mit ihren abschreckenden Wandabstürzen aus dunkel verwitterten Mergelschichten, welche im starken Kontrast zu den hellen Rätkalkplatten ihres SO-Grats und dem langen begrünten Verbindungsgrat zur Greitjochspitze stehen. Weit überragt wird die Fallenbacherspitze vom hellen Rätkalkturm der Wetterspitze und dem breiten, aus roten Hornsteinen aufgebauten Feuerspitzmassiv über dem Fallenbacherferner. Zwischen Feuerspitze und Fallenbacherspitze erkennen wir die auffallend dunkel gefärbte Felsruine des Fallenbacherturms, links davon zeigt sich der mächtige Gipfelaufbau der Vorderseespitze mit ihrem charakteristischen kleinen Ferner. Gegenüber blicken wir in das Gebiet der Memminger Hütte mit den Seeköpfen und der Kleinbergspitze als formschönste Erhebungen. Südlich davon thront auf einem riesigen Sockel aus stark verwitterten Mergelschrofen der alles überragende Steilgipfel der Parseierspitze. Umfassend wäre der Rundumblick wohl auch nach Norden in die Allgäuer Alpen und nach Süden in die Zentralalpen – hier waren bei meiner Besteigung leider nur Wolken zu sehen. Am meisten war ich jedoch von dem Tiefblick auf den schauderhaft ausgesetzten Verbindungsgrat zum Freispitztrapez und dem sich hier anschließenden, kaum weniger zugespitzten Schlussgrat des Jägerrückens fasziniert. Es ist absolut beeindruckend, was hier die Eiszeiten herausgearbeitet haben.
Nach einem Eintrag im Gipfelbuch, dessen Einträge sich trotz der berühmten Südwand noch in Grenzen halten, nehmen wir den Abstieg über den NW-Grat (Dreischartlroute) in Angriff. Dazu kehren wir zum oberen Austrittspunkt der Rinne zurück und fahren mühelos soweit in dem erdigen Mergelschutt ab, bis wir nach rechts über eine Rinne mit rötlichen Felseinlagerungen zur steilen Mergelflanke des NW-Grats gelangen. Zunächst gilt es, zur Abbruchkante des Grats hinüberzuqueren. Das Gelände ist sehr steil aber gut gestuft. Das Gestein ist – typisch für Mergelgelände – nirgends zuverlässig, trotzdem hat mir die Querung und der weitere Abstieg Freude bereitet. Am Besten hält man sich immer nahe der Abbruchkante, wo Mergelschrofen gute Tritte und Griffe bieten. Das Gelände ist höchstens mit I+ zu bewerten, aber natürlich gilt es in Nähe der Abbruchkante höchste Konzentration zu wahren. Landschaftlich ist auch diese Route wieder ungemein beeindruckend und es erübrigt sich jede Erklärung, warum die Freispitznordwand ein auch unter Profialpinisten gefürchtetes Gelände ist. Blickfang während des gesamten Abstiegs ist die düstere NW-Wand des Freispitztrapezes, welches hier als kühne Aptychenkalkspitze in den Himmel ragt. Achten Sie beim Abstieg darauf, nicht versehentlich einer geradeaus führenden Seitenrippe des NW-Grats zu folgen. Halten Sie sich immer rechts Richtung Dreischartlkopf, wobei ungangbare Gratabschnitte links ausweichend umgangen werden. Am Ende gilt es nochmals eine hervorragend gestufte, jedoch sehr steile Schrofenflanke zu queren (I+), bevor der Grat nahezu senkrecht in die oberste Dreischarte abbricht. Diese früher mit III- zu wertende Passage ist zwischenzeitlich mit Eisenbügeln weitgehend entschärft. Der Abstieg kostet aber immer noch einiges an Kletterfertigkeit und ist nach meinem Empfinden mit einem guten IIer zu bewerten.
Wem nun der Abstieg in das hintere Becken des Appenzeller Kars von hier zu ungemütlich aussieht: Die weiter vorne liegenden Scharten im weiteren Gratverlauf bieten z.T. etwas angenehmere Abstiegsmöglichkeiten, wie Raimund und ich bei dem Versuch einer Besteigung des Dreischartlkopfs herausgefunden haben. Der Übergang zum Dreischartlkopf wird kurz vor der tiefsten Scharte von einem kleinen Gratturm verwehrt, welcher weder einfach überklettert noch links umgangen werden kann. Die Umgehung auf der dem Appenzeller Kar zugewandten Seite ist nur über eine sehr steile Grasschrofenwand möglich, welche man durch Querung über einen ausgesetzten Plattenriss erreicht. Der Alpenvereinsführer liegt hier also völlig falsch. Wir haben aufgrund der beträchtlichen Schwierigkeiten und der fortgeschrittenen Tageszeit den Übergang schließlich abgebrochen.
Für den vermutlich noch angenehmsten Abstieg ins Appenzeller Kar umgehen wir in Richtung Dreischartlkopf die ersten Grattürme links, bis wir zu einem nach links abzweigenden, felsigen Seitengrat gelangen. Diesem folgen wir nur wenige Meter, steigen dann nach rechts über gut gestuften Fels zur nächst tieferen Ebene ab (I+) und queren wieder zurück zum Grat. Der nun folgende Abstieg vom Grat über erdige Steiltritte ist zwar ebenfalls etwas unangenehm, aber in jedem Fall kürzer als der Abstieg aus der ersten Scharte. Nach dem Gratabstieg halten wir uns rechts (auf keinen Fall dem Geröllfeld hier abwärts folgen!) und erreichen so das hintere schmale Becken des Appenzeller Kars. Teilweise über Altschneereste steigen wir nun stets in der tiefsten Senke ab und erreichen schließlich das Geröllfeld unterhalb des Verbindungsgrats Saxerspitze – Freispitztrapez, welches weiter unten in das Grießgampetal mündet. Eindrucksvoll zeigt sich von hier die bis zu 400 m hohe Nordwand des Dreischartlkopfs mit ihrem äußerst kompakten Rätkalkfels. Die ersten Höhenmeter lassen sich noch ganz gut im Geröll abfahren, der weitere Abstieg im Grießgampetal ist aber wahrlich kein Genuss. Immer wieder versperren kleine Steilstufen den Weg, die dann meist ziemlich unangenehm umgangen werden müssen. Noch einmal sind also Konzentration, Trittsicherheit und zähe Beinmuskulatur gefragt, bis wir schließlich 300 Höhenmeter weiter unten auf den querenden Steig zur Saxeralm gelangen. Wir folgen dem Steig nach links und genießen den nun dämpfenden Waldboden unter den Füßen hinab zur Forststraße im Alperschontal.
Wohl dem, der hier sein Fahrrad deponiert hat. Allen anderen wünsche ich an dieser Stelle weiterhin gutes Durchhaltevermögen. Ich würde wetten, dass Sie beim nächsten Mal auf das Fahrrad nicht verzichten wollen. Und ein nächstes Mal, da bin ich mir sicher, wird es auch bei Ihnen wieder geben. Ich wusste jedenfalls schon am Abend als ich erschöpft meine geschundenen Beine von mir streckte: Ich werde all die Mühsal erneut auf mich nehmen, um noch einmal die wundersame Welt der Freispitze betreten zu dürfen. Dann aber bei etwas besserem Wetter.
|